Niederländische Strafverfahren
gegen Deutsche und Oesterreicher wegen im 2. Weltkrieg begangener NS-Verbrechen
1945 - 1952

NL-Verfahrenübersicht

Der Ausgang der Verfahren

Die Strafen

Die Vollstreckung der Strafen

Die Verfolgung und Aburteilung

Urteile lesen

Strafakten einsehen

Einführung

Inhalt und Aufbau der Verfahrensübersicht

Die Übersicht enthält die Verfahren, die nach dem 8.Mai 1945 vor niederländischen Gerichten gegen insgesamt 239 Deutsche und Oesterreicher wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie wegen anderer besatzungs- und kriegsbedingten Straftaten stattgefunden haben.

Anders als bei den west- und ostdeutschen Verfahren beschränkt diese Übersicht sich somit nicht auf Tötungsverbrechen.

Die Verfahren wurden ähnlich wie die in dieser Website aufgenommenen deutschen Strafverfahren beschrieben und erschlossen. Bei den niederländischen Verfahren wurden allerdings zwei zusätzliche Kategorien gebildet:
eine Kategorie "Nach Deutschland abgeschoben":
hier kann festgestellt werden, wann die betr. Person aus den Niederlanden abgeschoben und damit wie lange der betr. Verurteilte seine Strafe verbüsst hat
eine Kategorie "Sonstige Hinweise":
diese enthält Erläuterungen mancher Urteile, Mitteilung über die gnadenweise Umsetzung von höheren in niedrigere Strafen, Hinweise auf mit dem betr. Verfahren zusammenhängende andere (deutsche und niederländische) Verfahren sowie auf Veröffentlichungen (meistens in englischer Sprache) über das betr. Verfahren.

Die Verfahren sind chronologisch nach dem Datum der das Verfahren abschliessenden rechtskräftigen Entscheidung der Tatsacheninstanz geordnet und mit der laufenden Nummer NL001 - NL241 versehen worden.

An Hand der uns vorliegenden Materialien konnten in Bezug auf die Tatumstände in einer Reihe von Fällen keine sicheren Feststellungen getroffen werden. In solchen Fällen haben wir uns dafür entschieden in der betr. Kategorie 'unbekannt' zu vermerken. Davon sind insbesondere die Kategorien Tatzeit, Tatort und, wenn auch in geringerem Masse, die Kategorie der Opfer betroffen. Wir bemühen uns um Abhilfe in der kommenden Zeit.

Der Ausgang der Verfahren

Von den 3 weiblichen und 236 männlichen Angeklagten

wurden freigesprochen 10,7 %
wurde das Verfahren eingestellt bei 4,2 %
wurden verurteilt 85,1 %

Die Strafen

Verurteilt wurden

zur Todesstrafe: 7,5%
zu lebenslänglich: 2,5%
zu einer zeitigen Freiheitsstrafe
bis zu einem Jahr: 2,5%
von 1 bis 5 Jahren: 23,6%
von 5 bis 10 Jahren: 22,4%
von 10 bis 15 Jahren: 12,4%
von 15 bis einschl. 20 Jahren: 14,5%

Die Vollstreckung der Strafen


Todesstrafen

Vollstreckt wurden 5 Todesstrafen (Verfahren NL004, NL010, NL043, NL067, NL134). Bei 4 Todesstrafen handelte es sich um ein Abwesenheitsurteil; diese Verurteilten konnten auch später nicht verhaftet werden, sodass diese Strafen nicht vollstreckt wurden. Einer dieser Verurteilten war - wie erst nach 1990 bekannt wurde - in der DDR wegen derselben Tat bereits ein Jahr vor dem niederländischen Urteil zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden - siehe Verfahren NL113.

Die übrigen 9 Todesstrafen wurden in lebenslängliche Freiheitsstrafen und - bis auf einen Fall, wo der Verurteilte vorher in der Haft verstarb - später in eine zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt.

Lebenslängliche Freiheitsstrafen

Alle lebenslängliche Freiheitsstrafen sind in zeitige umgewandelt worden. Der letzte zu einer solchen Strafe Verurteilte wurde Mai 1960 aus der Haft entlassen.

Zeitige Freiheitsstrafen

Diese sind im allgemeinen (und insbesondere bei zeitigen Freiheitsstrafen von mehr als 1 Jahr) nur zu 2/3 verbüsst worden.
Bei 4 zu zeitigen Freiheitsstrafen Verurteilten konnte die Dauer der Strafvollstreckung nicht festgestellt werden. Zwei zu 12 bzw. 7 Jahre Verurteilte flohen 1949 bzw. 1950 aus der Haft.

Weitere Zahlen

Fünf Jahre nach Kriegsende, am 8.Mai 1950, waren noch 146 Personen in Haft, 2 Jahre später noch 81. Zehn Jahre nach Kriegsende betrug diese Zahl 49.

Ende 1960 waren alle Verurteilten entlassen worden bis auf 4 ursprünglich zum Tode Verurteilte, deren Strafe inzwischen in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt worden war. Einer wurde Juni 1966 krankheitshalber vorzeitig entlassen (Fall NL171). Gegen die Entlassung der drei übrigen formierte sich Anfang der siebziger Jahre in Opfer- und Widerstandskreisen eine starke Opposition, die einen beträchtlichen Widerhall in der niederländischen Bevölkerung und im Parlament fand. Nach einigen fehlgeschlagenen Anläufen, konnte die Regierung schliesslich 1989 die letzten zwei im Gefängnis Breda einsitzenden Verurteilten entlassen (Fälle NL095 und NL199). Der Dritte (Fall NL046) war vorher in der Haft verstorben. Die überlange Haft dieser drei, deren Vorgesetzte und Kollegen spätestens seit 1966 auf freiem Fuss waren, ist kein Ruhmesblatt der niederländischen Nachkriegsjustiz.

Die Verfolgung und Aburteilung

Der Zeitrahmen

Das erste Urteil gegen einen Deutschen erging September 1945 und betraf eine recht unbedeutende Denunziation, die mit 6 Monaten Gefängnis geahndet wurde. Im Jahre 1946 kamen 3, in den ersten Monaten des Jahres 1947 2 Verfahren zum Abschluss. Mit Ausnahme des Verfahrens NL004 handelte es sich durchweg um Fälle untergeordneter Bedeutung, wobei die Straftaten fast immer von (ausländischen) Privatpersonen, nicht aber von Organen der Besatzungsmacht in amtlicher oder dienstlicher Eigenschaft begangen worden waren.

Dann kommt - infolge einer gesetzlichen Unterlassung, auf die unten näher eingegangen werden wird - die Strafverfolgung deutscher und österreichischer Täter nahezu völlig zum Stillstand. Erst ab Ende April 1948, nach einjähriger Unterbrechung, fanden wieder Gerichtsverhandlungen statt. Als erstes erging, Mai 1948, das auf Todesstrafe lautende Urteil gegen den Höheren SS- und Polizeiführer in den Niederlanden, den Oesterreicher Hans Albin Rauter (NL010). Dem folgten 1948 44, 1949 147, 1950 33 und 1951 4 Verfahren. Damit war - abgesehen von einem Wiederaufnahmeverfahren aus dem Jahre 1957 und von einem Verfahren im Jahre 1980, das sich mit der recht späten Berufung gegen ein Abwesenheitsurteil aus dem Jahre 1949 befasste - in den Niederlanden die Strafverfolgung ausländischer Täter wegen Straftaten begangen im zweiten Weltkrieg zu Ende.

Der rechtliche Rahmen

Die Grundlage für die Ahndung von mit Krieg und Besatzung zusammenhängenden Straftaten niederländischer und ausländischer Täter bildete grundsätzlich das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung in der bei Kriegsanfang bestehenden Fassung. Allerdings wurden 1943 von der Exilregierung in London einige Änderungen und Ergänzungen beschlossen, die auch nach dem Kriege weitgehend beibehalten wurden.

In materiellrechtlicher Hinsicht
ist vor allem die Einführung zweier Tatbestände von Bedeutung, durch welche sich strafbar machte
- wer jemanden der Verfolgung durch die Besatzungsmacht (z.B. durch Denunziation) auslieferte
und
- wer sich unter Ausnutzung der Besatzungsverhältnisse an fremdem Eigentum bereicherte.

Deswegen sind aber vor allem Niederländer und einige ausländische Privatpersonen abgeurteilt worden. Denn als die Gerichte erster Instanz auch Angehörige der deutschen Besatzungsmacht wegen dieser Strafbestimmungen (und wegen Mordes, Raubes u.ä.) verurteilten, stellte das Revisionsgericht sich quer: diese seien, soweit sie in amtlicher oder dienstlicher Tätigkeit handelten, dem Völkerrecht und allenfalls ihrem eigenen - deutschen - Recht, nicht aber dem nationalen niederländischen Recht unterworfen. Wegen Völkerrechtsverletzungen, begangen auf niederländischem Territorium oder an Niederländern im Ausland unterlägen sie nach dem Völkerrecht zwar durchaus der niederländischen Strafgewalt und könnten somit von niederländischen Gerichten bestraft werden. Nur habe, so das Revisionsgericht, die niederländische Regierung es versäumt, die Völkerrechtsverletzungen (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) als solche mit Strafe zu bedrohen und den niederländischen Richter zur Aburteilung dieser Straftaten, begangen durch Angehörige feindlicher Organe, zu ermächtigen (Verfahren NL172).

Durch diese Revisionsentscheidung kam, wie oben dargelegt, die Ahndung von Verbrechen, begangen durch Deutsche und Oesterreicher, weitestgehend zum Stillstand. Erst nach Verabschiedung einer Gesetzesänderung im Juli 1947, durch welche den Auflagen des Revisionsgerichts entsprochen wurde, nahm die Strafverfolgung wieder ihren Lauf. Es sollte aber bis Mai 1948 dauern, bis das erste Urteil auf dieser Grundlage erging (Verfahren NL010).

Diese Verzögerung hatte zwar zur Folge, dass die Untersuchungshaft sich verlängerte, sie wirkte sich aber für die schwererer Verbrechen Überführten eher vorteilhaft aus: sie wurden abgeurteilt in einer Zeit als die erste Wut und die grösste Empörung über die NS-Verbrechen schon etwas abgeklungen war und das anfänglich doch recht hohe Strafniveau schon wieder nach unten tendierte.

In prozessualer Hinsicht
ist vor allem von Bedeutung, dass die Aburteilung ausserhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch 5 sog. 'Besondere Gerichtshöfe' in der ersten Instanz und ein 'Besonderes Revisionsgericht' in der obersten Instanz stattfand. Allerdings wurden diese Gerichte 1952 aufgehoben und die dann noch anstehenden bzw. später anfallenden Strafsachen dieser Art 'Besonderen Strafkammern' bei den Landgerichten bzw. dem Hohen Rat der Niederlande als ordentlichem Revisionsgericht übertragen.

Dass diese ebenfalls 1943 von der niederländischen Exilregierung in London geschaffene Regelung sowohl für Niederländer als für Ausländer galt und auch nach Kriegsende mit geringen Änderungen vom Parlament aufrecht erhalten wurde, kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Sondergerichte zur Aburteilung von Verbrechen von Kollaborateuren, Nutzniessern und Angehörigen feindlicher Organe geschaffen worden waren. Das begründet einen gewissen Anfangsverdacht, die Rechtsstaatlichkeit dieser sondergerichtlichen Rechtsprechung sei nicht gegeben.

Aufschlussreicher als das, was die Niederländer dazu meinen (sie hielten und halten die Rechtsstaatlichkeit sowohl formal als materiell durchweg für gegeben) ist wohl das Urteil von deutschen Gerichten, die mit dieser niederländischer Rechtsprechung konfrontiert wurden.

Das war 1980 der Fall, als der im Verfahren NL088 abgeurteilte Angeklagte vor einem deutschen Gericht stand wegen des Verdachts, in den letzten Kriegstagen in den Niederlanden zwei Juden erschossen zu haben (Verfahren JuNSV Lfd.Nr.859). Die von dessen Anwalt vorgetragenen Bedenken, bei den niederländischen Gerichten handele es sich um ein Ausnahme- oder Sondergerichte, die mit der niederländischen Verfassung nicht vereinbar und deshalb nicht wirksam errichtet worden seien, wies das deutsche Gericht als unzutreffend zurück.

"Die niederländischen Sondergerichtshöfe", so das deutsche Gericht, "sind zwar nur durch Beschluss der niederländischen Exilregierung in London vom 22. Dezember 1943 (Nr. D 62) zur Zeit verfassungsrechtlichen Notstandes eingerichtet, doch sowohl von den niederländischen Nachkriegsregierungen wie auch vom Parlament und der niederländischen Rechtsprechung - soweit ersichtlich ausnahmslos - aber als legal angesehen und bestätigt worden. Zudem waren die Sondergerichtshöfe keine unzulässigen Ausnahmegerichte. Sie waren vor Begehung der den Angeklagten zur Last gelegten Taten für bestimmte, abstrakt geregelte Sachgebiete errichtet und generell nicht nur zur Entscheidung eines oder mehrerer Einzelfälle oder nur bestimmter Personen eingesetzt. Die Vorschriften über ihre Errichtung und Besetzung und das nach der niederländischen Strafprozessordnung gehandhabte Verfahren erfüllten alle wesentlichen Anforderungen an rechtsstaatliche Gerichtsverfahren, wovon sich die Kammer anhand der mit den Verfahrensbeteiligten erörterten einschlägigen niederländischen Bestimmungen und dem erörterten formellen Inhalt der Sitzungsprotokolle des Sondergerichtshofes überzeugt hat und wie zudem es die Zeugen V. (heute Amtsrichter) und M. (heute Professor für Strafrecht), die damals als bereits examinierte Juristen als Protokollführer und Abfasser von Urteilsentswürfen an den Verhandlungen des Sondergerichtshofs in Groningen mitgewirkt haben, bestätigt haben. .... Die am niederländischen Vernehmungsort erforderlichen Förmlichkeiten sind bei den nach den dort gültigen Rechtssätzen stattgefundenen Vernehmungen berücksichtigt worden. Es handelte sich um richterliche Vernehmungen, weil die Mitglieder des Sondergerichtshofes im niederländischen Rechtsgefüge die Stellung von Richtern einnahmen; mindestens 2 der jeweils 3 Mitglieder des Sondergerichtshofes waren rechtsgelehrte Richter der niederländischen ordentlichen Gerichtsbarkeit."

Für ein negatives Pauschalurteil, basierend auf der Tatsache, dass es sich hier um Sondergerichtsurteile gehandelt hat, ist somit auch nach Ansicht der Justiz des ehemaligen Kriegsgegners kein Raum.

Das bedeutet natürlich nicht, dass alle niederländische Urteile gegen Deutsche und Oesterreicher wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Sternstunden richterlichen Wirkens sind, wenn auch Gerichte in einer Reihe von Verfahren durchaus Verständnis für die Verhältnisse gezeigt hatten, unter denen Angehörige der Besatzungsbehörden arbeiten mussten (vgl. z.B. NL033, NL034, NL037, NL068, NL073, NL099, NL176, NL203, NL231).

Die Täter- und Opferausrichtung der Strafverfolgung

Die niederländische Strafverfolgung stand im Zeichen der wiedergewonnenen Freiheit und Unabhängigkeit und des dazu gegen die Besatzungsmacht und ihre Helfer geleisteten Widerstandes. Die Verfolgung von Straftaten begangen im Rahmen dieses Kampfes haben eine eindeutig höhere Priorität bekommen als solche, die sich gegen Bevölkerungsgruppen ihrer 'Rasse' oder Abstammung wegen richteten. Das spiegelt sich in dem recht geringen Prozentsatz der Verfahren mit jüdischen Opfern wieder (19%, eine Zahl die sich allerdings, weil bei 48 Verfahren die Opfer nicht eindeutig festgestellt werden konnten, noch etwa erhöhen könnte).

Diese Verfolgungsausrichtung einerseits und die Behandlung dieser aussergewöhnlichen Kriminalität nach einem traditionellen, auf die üblichen Straftaten zugeschnitten Erfahrungsmuster - und damit die Verkennung der besonderen Art dieser Staatsverbrechen - andererseits, haben dazu geführt, dass die niederländische Strafverfolgung sich vor allem auf zwei Kategorien von Tätern konzentriert hat
einmal
auf die 'tatnahen' oder 'eigenhändigen' Täter, die letzten Glieder in der Verbrechenskette und
zum anderen
auf diejenigen, die als höchste Vertreter der damaligen Machthaber in Erscheinung getreten und für ein breiteres Publikum zu Exponenten des Regimes geworden waren.

Diejenigen, die weniger nach Aussen in Erscheinung traten oder sich mit Tätigkeiten beschäftigten, mit denen sich normalerweise nicht die Assoziation eines Verbrechens verbindet - Verwaltung, Justiztätigkeit und dergl. - sind auch dann von der niederländischen Justiz kaum belangt worden, wenn sie auf policy making level tätig waren oder die Art und Weise der NS-Politik an hoher oder gehobener Stelle massgeblich mitbestimmt hatten.

So ist beim Stab des Befehlshabers der Sipo und des SD (BdS) die ganze obere und Mittelschicht unbehelligt geblieben. Von der Präsidialabteilung des höchsten Vertreters des Dritten Reiches in Holland, des Reichskommissars Seyss Inquart - immerhin 137 Männer und Frauen -, stand niemand vor Gericht, obwohl gerade von ihr alle grundsätzlichen Richtlinien in Judenangelegenheiten ausgegangen waren. Alle Angehörigen des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz - in etwa mit dem Reichsinnen- und Reichsjustizministerium vergleichbar - wurden genau so ohne Prozess nach Hause geschickt wie die deutschen Richter, die gegen etwa 750 Holländer Todesurteile verhängt hatten. Nur bei einem Richter, dem Präsidenten eines Standgerichts, wurde eine Ausnahme gemacht. Er wurde jedoch aus rechtlichen Gründen freigesprochen mit einer Begründung, die auch vom deutschen Bundesgerichtshof - bis er sich mit Rechtsbeugungsfällen von DDR-Richtern konfrontiert sah - gehegt und gepflegt wurde (siehe Verfahren NL236). Dass der betreffende deutsche Standrichter einer der 5 höchsten Beamten des mit der Judendeportation befassten Stabes des BdS gewesen war, führte nicht einmal zur Anklage.

Urteile lesen

In der Verfahrensbeschreibung ist in einer besonderer Kategorie vermerkt, ob das Urteil veröffentlicht worden ist. Das ist nur bei 35 Verfahren der Fall. Ausser bei den Verfahren NL010 (HSSPF Niederlande) und NL017 (Wehrmachtsbefehlshaber Niederlande) sind von diesen Urteilen nicht der volle Wortlaut, sondern nur solche Teile abgedruckt, die juristisch bedeutsam sind.

Aber auch wer über den vollständigen Urteilstext verfügt, wird davon nur einen sehr begrenzten Nutzen haben, es sei denn, sein Interesse an den Verfahren ist ein strikt juristisches. Historiker, Soziologen, Psychologen und andere kommen jedoch nicht auf ihre Kosten. Das hängt mit der Technik der Beweiserhebung und der Gestaltung von niederländischen Strafurteilen sowie damit zusammen, dass die Rechtsprechung in den Niederlanden ausschliesslich Sache von Juristen ist - Laien, in welcher Form auch immer, werden nicht beteiligt.

Auf einen (etwas verkürzten) Nenner gebracht, kann man sagen, dass aus einem niederländischen Strafurteil zwar hervorgeht, wie der Richter, kaum aber warum er so und nicht anders entschieden hat. Eine einigermassen umfassende Sachverhaltsdarstellung fehlt ebenso wie Ausführungen über die Person des Angeklagten. Auch eine Erörterung der Beweismittel, sowie eine Wertung oder eine Abwägung einander widersprechender Beweismittel wird man im Urteil vergebens suchen. Das beruht auf dem Umstand, dass der niederländische Richter in seinem Strafurteil in aller Regel die ihm vorgelegten Beweismittel nicht zu erörtern und seine Wahl aus einander widersprechenden Beweismitteln nicht zu begründen, ja nicht einmal anzugeben braucht, dass es solche Widersprüche gab. Für die Strafzumessung reicht der Satz, dass die verhängte Strafe 'der Persönlichkeit des Angeklagten, der Schwere der Tat und den gesamten Tatumständen' entspricht. Auch zur Begründung eines Freispruchs aus tatsächlichen Gründen reicht ein ähnlicher floskelhafter Satz.

Der Unterschied zu deutschen Strafurteilen lässt sich am Besten an Hand des niederländischen und des deutschen Strafurteils gegen den bis September 1943 in Holland amtierende Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD verdeutlichen. Dieser wurde 1949 in Holland zu 12 Jahren Freiheitsstrafe (NL097), 1967 in München zu 15 Jahre Zuchthaus verurteilt (JuNSV Lfd.Nr.645).

Das Münchner Urteil, das sich mit seinem Anteil an der Judendeportation beschäftigt, umfasst 625 Schreibmaschinenseiten. Nach der Lektüre dieses Urteils weiss man ziemlich genau, wie die Judendeportation in den Niederlanden nach Ansicht des Gerichts vor sich gegangen ist und welchen Tatbeitrag der Angeklagte dazu geleistet hat. Die Dokumente werden durchweg in Wortlaut wiedergegeben.

Das niederländische Urteil umfasst 10 Seiten. Etwa 5 davon beschäftigen sich mit dem Anklagepunkt Judendeportation. Hier verweist das Urteil auf 13 zum Beweis verwendete Dokumente, ohne dass deutlich wird, was sie sachlich beinhalten. Und weiter findet man im Urteil aus der Erklärung des Angeklagten in der Hauptverhandlung sowie aus Protokollen von Vernehmungen weiterer 10 Personen durch den Untersuchungsrichter oder durch die Polizei jeweils genau die 3 bis 4 Sätze, die zum Beweis der einzelnen Tatbestandsmerkmale erforderlich sind.

Strafakten einsehen

Wer an einem bestimmten Fall interessiert ist, kommt deshalb nicht umhin, die Strafakten beizuziehen. Hier kann er den Lauf der Ermittlungen verfolgen sowie die Schriftsätze der Anwälte und Staatsanwälte und die Protokolle der Vernehmungen des Angeklagten und von Zeugen durch Polizei und Untersuchungsrichter erforschen.

Die meisten Strafakten der niederländischen Verfahren sind erhalten geblieben und befinden sich beim Nationaal Archief, Prins Willem-Alexanderhof 20, Postfach 90520, 2509 LM  Den Haag in den Niederlanden.

Die Strafakten haben allerdings einen Nachteil mit den Urteilen gemeinsam: wer der niederländischen Sprache nicht mächtig ist, dem werden auch die Strafakten ein Buch mit sieben Siegeln bleiben.

 

Literatur: Dick de Mildt und Joggli Meihuizen, '“Unser Land muss tief gesunken sein“. Die Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher in den Niederlanden’, in:
Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (Göttingen 2006), 283-325.

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